Wenn Staaten online gehen

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Die Digitalisierung macht auch vor der Diplomatie nicht halt. Die Verhandlungen per Video-Schalte könnten Folgen für die globale Politik haben.

Wenn Deutschland am 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, hat Berlin einiges zu tun. Der Programmentwurf für die Präsidentschaft, der EurActiv Deutschland vorliegt, dreht sich um die großen gegenwärtigen Herausforderungen: Klimawandel, Digitalisierung, Coronakrise. Doch abseits dieser großen Begriffe gibt es weitere Themenfelder, die zeigen, welche Visionen die deutsche Regierung für Europas Zukunft hat. Dazu gehört die digitale Diplomatie.

[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog.  Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden.]

Eine „Europäische Digitaldiplomatie“ will Berlin aufbauen, und zwar durch die Schaffung eines „Digital Diplomacy Networks“, um neben den „Technosphären USA und China“ zu bestehen. Dabei dürfte es nicht nur darum gehen, europäische Industrien wettbewerbsfähig zu halten. Denn der Begriff der „digitalen Diplomatie“ ist nicht neu, er geistert seit einigen Jahren durch die Welt internationaler Beziehungen. Es gibt dazu Studien, manche Außenministerien – beispielsweise im Vereinigten Königreich –  halten sich eigene Abteilungen für Digitaldiplomatie.

Ilan Manor, israelischer Forscher an der Oxford University und Autor zahlreicher Arbeiten zu Digitaldiplomatie, definiert sie als „die Nutzung digitaler Werkzeuge zum Erreichen außenpolitischer Ziele“. Diese Definition ist absichtlich breit gefasst, sagt Manor im Gespräch mit EurActiv Deutschland, weil Technologie in so vielen Bereichen internationaler Beziehungen eingesetzt werden können.

 Memes als Propaganda-Instrument

Schon 2002 gründete die US-Regierung eine „eDiplomacy-Taskforce“, doch erst 2008 begannen Außenministerien weltweit, das Thema ernsthaft anzugehen, so Manor. Er beschäftigt sich vor allem mit der Digitalisierung der „öffentliche Diplomatie“, die sich nicht an andere Regierungen richtet, sondern an ihre Bevölkerung. So entsteht heimischer Druck auf fremde Regierungen, ihre Beziehungen zum eigenen Staat zu verbessern. Dazu nutzen Staaten immer stärker soziale Medien.

[Erschienen bei EurActiv. Das europapolitische Onlinemagazin EurActiv und der Tagesspiegel kooperieren miteinander. Bearbeitet von Zoran Radosavljevic und Tim Steins. Übersetzung: Tim Steins]

Manor teilt die Entwicklung dieser digitalen öffentlichen Diplomatie in zwei Phasen. In der ersten von 2008 bis 2015 machten Regierungen erste vorsichtige Schritte, sie experimentierten und starteten relativ ziel- und wahllos verschiedene Online-Aktivitäten. Außenministerien und Botschaften legten Social Media-Accounts an. Schweden eröffnete eine virtuelle Botschaft im Online-Videospiel „Second Life“.

Doch erst in der zweiten Phase, die 2015 begann, agierten Außenministerien verstärkt strategisch. „Big Data“ wurde genutzt, um Stimmungen in anderen Ländern zu erfassen, aber auch, um Online-Propaganda gegen das eigene Land aufzuspüren. Als Beispiel nennt Manor die russische Botschaft im Vereinigten Königreich, die vor dem Brexit-Referendum gezielt Anti-EU-Narrative verbreitet haben soll – verpackt in lustigen und scheinbar unschuldigen Internet-Memes, die sich rasant verbreiteten.

 Privatchat statt Schultertippen

Doch auch die „klassische“ Diplomatie zwischen Staaten wird digitaler – vor allem jetzt, da die Corona-Krise die Verhandlungsräume leerfegte. Konferenzen und Verhandlungen finden per Videotelefonie statt. Das erschwert Verhandlungen, birgt aber auch Chancen für mehr Inklusion, sagen die Abrüstungs-Aktivistinnen Susi Snyder und Erin Hunt.

Die Niederländerin Snyder ist Projektleiterin beim „No Nukes“-Programm der Organisation PAX, die Kanadierin Hunt ist Programm-Managerin bei „Mines Action Canada“. Beide saßen in etlichen Verhandlungen, haben aber dank ihrer Rollen auch Erfahrung mit dezentraler Organisation. Dies gossen sie in einen Leitfaden für digitale Verhandlungen, schickten ihn an Diplomaten und bekamen viel Dank zurück.

Im Vergleich zu Verhandlungen in den großen Sälen der UNO gehe bei der Video-Telefonie viel verloren, erklärt Hunt. Abgesehen von Körpersprache und Namensschildern fehle vor allem das sogenannten „Schultertippen“, mit dem man kurze Gespräche unter vier Augen einleitet. Die echte Überzeugungsarbeit werde laut Hunt nicht im Verhandlungssaal geleistet, sondern bei Gesprächen im Café oder am Gang. Um das zu ersetzen, müsse bei Videotelefonie der private Chat immer offen bleiben, so Hunt.

Chance für Konferenzteilnehmer, die nicht reisen können

Doch die erzwungene Digitaldiplomatie sei auch eine Chance, sagt Snyder. Denn per Videotelefonie können auch Menschen an Verhandlungen teilnehmen, die sonst keine Chance darauf hätten. Bei Abrüstungs-Verhandlungen gelte das etwa für Opfer von Waffengewalt, die aufgrund ihrer Verletzungen oder ihrer finanziellen Situation nicht reisen können. Ihre Erfahrungsberichte seien aber essentielle Treiber der Verhandlungen.

Philipp Grüll

https://www.tagesspiegel.de/politik/digitale-diplomatie-wenn-staaten-online-gehen/25920740.html

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